Lina Augustin
Sprachrohr aus einer kantigen Welt
Nähe durch Fremdheit
Albert Camus beschreibt in seinem Roman Der Fremde das Fremdsein als grundlegendes Seins- und Existenzgefühl. Der Mensch ist ein Fremder gegenüber der Welt, ein Fremder unter den Menschen und auch ein Fremder gegenüber sich selbst.1 Der Protagonist ist von anderen durch ein Sprachgitter2 getrennt. Fremdheit äußert sich als Sprachlosigkeit. Jedes Wesen ist in einer Zelle gefangen, in der nur die individuelle Sprache gesprochen und verstanden wird.
Das Objekt Midnight Snack wirkt ebenfalls wie durch ein Sprachgitter von mir getrennt. Obwohl es mir seinen geöffneten Schlund präsentiert, wirkt es nicht als wäre eine vertraute Art der Kommunikation mit ihm möglich. Das geöffnete Maul führt in einen dunklen Bereich des Unbekannten, offenbart ein jähes Schweigen. Zwar zeigt es sich der Außenwelt, doch wirkt es in sich abgeschlossen, biedert sich nicht an, es sucht nicht einmal die Verbindung zu anderen. Es erscheint in seinem Anderssein autark. Das Gefühl der Fremdheit ruft in mir sowohl Neugierde als auch Unbehagen hervor. Das Objekt will keine oberflächlichen, scheinbaren Gemeinsamkeiten vortäuschen oder gar erzwingen. Es wirkt durch seine pure, verstörende Existenz wie ein Möglichkeitsraum in den ich hinabsteigen könnte, würde ich den Mut dazu aufbringen. Es liegt an mir. Das Objekt entzieht sich jeder Verantwortung. Byung-Chul Han schreibt in Die Austreibung des Anderen: Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute, dass Sprachgitter nicht unbedingt einsam machen. Jenseits des Sprachgitters ist immerhin ein eigenständiges Du. Es bewahrt noch die Nähe der Ferne.3
Auch zwischen mir und dem Objekt wächst Verbundenheit durch Distanz. Ich versuche es zu verstehen, mich in den fremden Kosmos einzuarbeiten, doch setzt seine Eigenartigkeit eine abrupte Grenze, die ein Gefühl des Einverleibens und somit ein ‚harmlos werden‘ unmöglich macht. Auf subtile Weise lädt mich das Objekt zu sich ein, doch umso offensichtlicher fühle ich mich von ihm weggestoßen. Das Ausschließende, Territoriale eines Sprachgitters (jeder befindet sich in einem separaten Sprachkäfig), wird durch die vielen spitzen Hürden hin zu seinem Inneren deutlich. Durch nicht vorhandene verbindende Codes einer gemeinsamen Sprache nehme ich zwar die Anwesenheit des Objekts wahr, doch bleibe ich auf mich selbst zurückgeworfen. In der Beziehung zum Objekt kann ich mich nicht verlieren, es bietet mir keinen weichen Untergrund aus seichten Bestätigungen. Es gibt und nimmt mir nichts. Doch seine pure, störrische Anwesenheit brodelt und versetzt mich in Unruhe. Es schweigt, aber verschwindet nicht, es kratzt mich auf. Die scharfe Unzugänglichkeit des Objekts kann auch als Einladung verstanden werden mich mit mir selbst zu versöhnen und eigene Kanten, ungeschliffene Auswüchse und falsch verwachsene Wurzeln zu offenbaren, ohne Beschwichtigungen von außen zu erwarten. Zwei Wesen, das Objekt und Ich, existieren nicht symbiotisch, dafür nebeneinander - lauernd.
Wenn meine Neugierde unerträglich wird und ich den Schritt über die Schwelle in die Untiefen des Schlunds wage, zeigt sich eine natürliche Dominanz von Seiten des Objekts. Es befindet sich in einer Machtposition, will mir jedoch nicht meinen Willen nehmen. Es ist eher die Unfähigkeit des Objekts sich mir anzupassen, wodurch ich mich verändern muss, oder auch darf. Möchte ich mich auf es einlassen, muss ich mich wie ein wirbelloses Tier an seinen Ecken, Kanten und schräg stehenden Zähnen vorbeiwinden. Ich muss wachsam sein, dass seine zahlreichen Krallen mir nicht die Haut aufschlitzen. Ich muss zum Fisch werden, empathisch, glitschig, sanft, an seinen störrischen Ästen vorbeigleiten. Ich muss meine Form verändern, je nach dem wo ich gerade vorbei will, ohne das seine Äste und Arme aufweichen, oder mir sogar freundlich die richtige Richtung weisen würden.
Zarter Gegenkörper
Byung- Chul Han erläutert in Die Austreibung des Anderen: Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation heute das Wort ‚Objekt‘ stammt vom lateinischen Verb ‚obicere‘, das entgegenwerfen, vorhalten oder vorwerfen bedeutet. Das Objekt ist primär also ein ‚Gegen‘, das mir widerspricht. Darin besteht seine Negativität4, die auch mich neu formen kann, in dem ich mich ihm entweder in meiner Eigentümlichkeit entgegenstelle, oder mich ihm anpasse und vorübergehend zum schwachen Subjekt der Wandlung werde. Die Begegnung mit dem Objekt gleicht jedoch zunächst einer Kollision. Der hier gezeigte Gegenkörper5 hat seine eigene Zeit, seinen eigenen unverrückbaren Ort und seine eigene Aura. Er ist niemals fragmentiert, er lebt in seinem eigenen Tempo, nur der Naturgewalt scheint er unterworfen zu sein.
Der Schlund erinnert an einen tiefen Brunnen, in den ich mich stürze, um dann als ganz anderes, neues Selbst zurückzukehren. Das Objekt stellt mich auf die Probe. Es wirkt präsent, als würde es mich beobachten, als würde es jeden Wimpern- und Fehlschlag bemerken. Es wirkt auf mich zurück und ich fühle mich erkannt, was mich kurz mit heißem Stolz erfüllt. Doch im nächstem Moment überkommt mich ein noch viel dringlicher Selbsterhaltungsdrang, als könnte das Objekt irreversible Flecken in meine Seele brennen. Vielleicht hellsichtige Flecken oder aber tiefe Krater, die meine Erinnerungen an mich selbst löschen und mich zu einer Suchenden werden lassen.
Bei genauerer Betrachtung entdecke ich jedoch auch die weiche Seite des Objekts. Es ist ein Eremit. Es wirkt wie ein Naturwesen, halb Krebs, halb Baum, halb Krokodil. Ein altes Gewächs, das bereits viele Zyklen durchlebt hat. In jedem Zyklus ist ein weiterer Auswuchs durch Regen und Sonne hinzugekommen oder einer durch Dürre und Stürme abgestorben. Es ist ein Objekt der Wandlung, das Erfahrungen angesammelt hat. Es ist kein unbeschriebenes Blatt. Es hat Selbstschutzfunktionen ausgebildet.
Der Eintritt in seinen Schlund setzt Anstrengungen voraus. In seiner Mitte könnte ein erfrischender See auftauchen, als Teil einer wilden Naturlandschaft, zu dem ich mich in glühender Hitze durch Dornenbüsche kämpfen muss. Der Unterschied zum See besteht jedoch in seiner Spiegelfunktion, man erkennt sich selbst in seiner Oberfläche. Dies ist bei „Midnight Snack“ nicht der Fall. Beim Blick in die dunkle Öffnung lässt sich nichts ablesen, kein weiches Wasser bestätigt mir meine Existenz. Eher offenbart sich ein Sog, der mich in ein feuchtkaltes Nichts hinab ziehen könnte. Diese Grenz-erfahrung könnte reinigend oder vernichtend wirken, darin liegt der Reiz des Risikos. Doch muss ich mich erst beweisen. Mit Kratzern im Gesicht und Zecken am ganzen Körper habe ich schließlich das Gefühl, der Erfahrung würdig zu sein. Das Objekt ist ein strenger Lehrer. Die Negativität des Schmerzes, des Durchhaltens, aber auch der Weiterentwicklung sind inbegriffen. Eine Ausschließlichkeit wird deutlich, je mehr ich mich der dunklen Öffnung nähere. Diese Erfahrung fordert eine konsequente Haltung, die radikal alle anderen Möglichkeiten wegsaugt. Je tiefer ich mich in das Innere des Objekts begebe, desto stärker verschwindet die Außenwelt, desto mehr schließt mich das Objekt ein. Das erhöht die Intensität und gleicht einem meditativen Zustand der Hyperpräsenz. Das Objekt lädt mich zur Unterwerfung ein um seine Sprache zu lernen. Lernen kann in der Unterwerfung gegenüber Bestehendem stattfinden, etwa beim Erlernen einer neuen Sprache oder eines Instruments. Im Kontakt mit etwas mir Neuem, etwas das sich von mir unterscheidet. Mit seiner unverrückbaren Sturheit testet das Objekt ob ich es nur verurteilen oder wirklich verstehen will. Ich öffne mich, ich lenke den Blick weg von mir hin zum anderen. Ohne diesen Drang würde ich in mir gefangen bleiben. Das Objekt ist ein neues Land, vielleicht eine neue Welt. Mich auf es einzulassen erfordert die Bereitschaft zur Verwandlung und setzt die Fähigkeit des Loslassens und der Kontrollabgabe voraus.