top of page
12.jpg
Anker 2

„Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; [...] Eine Art Nabelschnur verbindet den Körper des photographierten Gegenstandes mit meinem Blick: das Licht ist hier, obschon ungreifbar, doch ein körperliches Medium.“1 In Die helle Kammer beschreibt Roland Barthes analoge Fotografie als einen physischen Vorgang. Von etwas, das fotografiert wird, gehen Lichtstrahlen aus. Diese Lichtstrahlen gelangen verzögert und durch chemische Prozesse übersetzt schließlich in eine Fotografie. In Form der Lichtstrahlen, die sich in die Fotografie eingeschrieben haben, ist das Fotografierte in der Fotografie präsent. Auf diese Weise ist jede Fotografie mit etwas Fotografiertem verbunden. Für Roland Barthes gibt diese Verbindung - die Nabelschnur - eine „Gewißheit“2. Eine Gewissheit darüber, dass etwas da gewesen sein muss, von dem die Lichtstrahlen, die sich in die Fotografie eingeschrieben haben, ausgegangen sind: das Fotografierte.

 

Das Fotografierte nennt Barthes den fotografischen Referenten. Ohne Referenten gibt es keine Fotografie. Umgekehrt bestätigt die Fotografie die vergangene Existenz ihres Referenten. Wie ein kleines Kind, das auf etwas zeigt und sagt: „das da, genau das, dieses eine ist’s“3, sagt jede Fotografie: „Es-ist-so-gewesen“4. Für Roland Barthes ist eine ,analoge‘ Fotografie „etwas Wirkliches, das man nicht mehr berühren kann.“5 Eine reale Sache hat sich vor dem Objektiv befunden und gelangt über die Fotografie zum betrachtenden Subjekt. Fotografie vergegenwärtigt das Vergangene. Eine Verbindung von Gegenwart und Vergangenheit findet statt. Die Lichtstrahlen des vergangenen Fotografierten gehen mit der Fotografie durch die Zeit hindurch bis in die Gegenwart. Das betrachtende Subjekt erfährt das Vergangene nicht metaphorisch sondern wirklich. Es erfährt „das Vergangene und das Wirkliche zugleich.“6 Für Barthes geht mit den Lichtstrahlen ein lebendiger Teil des Referenten in das Bild ein und wird dort bewahrt. Angesichts einer Fotografie erfahren wir den Referenten in seiner Lebendigkeit. Eine Fotografie ist in diesem Sinne das lebendige Bild von etwas Vergangenem, vielleicht schon Gestorbenem. Das Tote wird lebendig gehalten.

 

Eine in Die helle Kammer abgebildete Portraitfotografie von Alexander Gardner zeigt den zum Tode verurteilten Lewis Payne. Die Fotografie sagt uns: Lewis Payne wird sterben. Gleichzeitig ist dies bereits vergangen und Lewis Payne ist bereits tot. Sehen wir dieses Portrait erkennen wir zugleich „das wird sein und das ist gewesen“7. Diese spezielle Verschränkung von Zeit und Tod wird an der Fotografie eines zum Tode Verurteilten ganz besonders deutlich. Alles auf einer Fotografie Abgebildete wird jedoch irgendwann sterben und ist irgendwann tot. Gleichzeitig zeigt die Fotografie den lebendigen Referenten der noch sterben wird. Für Barthes gilt die besondere Beziehung der Fotografie zu Tod und Zeit deshalb für alle Fotografien. „[I]mmer wird hier die ZEIT zermalmt: dies ist tot und dies wird sterben“8

 

 

Die Wiederkehr des Toten

 

Diese Beziehung zu Tod und Zeit gibt der Fotografie etwas Unheimliches. Zwar ist für Sigmund Freud das Unheimliche nicht etwas, das einem Gegenstand der Betrachtung selbst anhaftet. Es ist weniger eine bestimmte Objekteigenschaft, die wir über unsere Sinne wahrnehmen, als vielmehr etwas, das tief aus unserem Inneren her rührt. Ein Gegenstand der Betrachtung kann deshalb eigentlich nicht unheimlich genannt werden. Dennoch nennt Freud Gegenstände, die das Hervortreten des Unheimlichen zumindest begünstigen und angesichts derer uns das Unheimliche besonders häufig überkommt. Darunter fallen für Freud „Abgetrennte Glieder, ein abgehauener Kopf, eine vom Arm gelöste Hand wie in einem Märchen von Hauff, Füße, die für sich allein tanzen“9 und generell alles, „was mit dem Tod, mit Leichen und mit der Wiederkehr der Toten, mit Geistern und Gespenstern, zusammenhängt.“10

 

Auch Barthes spricht in Bezug auf die Fotografie von der „Wiederkehr des Toten“11. Mit einer Fotografie kehrt ein Moment aus der Vergangenheit zurück in die Gegenwart. Eine Fotografie führt uns das Vergangene, vielleicht schon Gestorbene, lebendig vor Augen. Fotografie ist nicht nur unheimlich, weil sie mit dem Tod in Verbindung steht, sondern auch, weil sie etwas wiederkehren lässt. Fotografie erinnert uns an das Vergangene. Treten beim Erinnern Gedächtnisinhalte an das ehemals Vertraute, das wir auf Grund von Verdrängung und Entfremdung nicht mehr als Teil unseres Eigenen erkennen, hervor, begegnen wir dem Freudschen Unheimlichen. Weil Fotografie uns stets an das Vergangene erinnert, hat Fotografie ganz besonders das Potenzial ein Gegenstand zu sein, der das Hervortreten des Unheimlichen begünstigt. 

 

 

Ausklammerung

 

Das Fotografiertwerden vergleicht Barthes mit dem Sterben. Auch an dieser Stelle zeigt sich die Fotografie mit dem Tod und dem Unheimlichen verbunden. 

 

In der Phantasie stellt die PHOTOGRAPHIE […] jenen äußerst subtilen Moment dar, in dem ich eigentlich weder Subjekt und Objekt, sondern vielmehr ein Subjekt bin, das sich Objekt werden fühlt: ich erfahre dabei im kleinen Ereignis des Todes (der Ausklammerung): ich werde wirklich zum Gespenst.12

 

In gewisser Weise wird beim Sterben aus dem lebendigen Subjekt ein erstarrtes Objekt. Auch im Augenblick des Fotografiertwerdens wird aus einem Subjekt ein Objekt. Für Barthes gleicht dieser Vorgang einer Operation, bei der das Subjekt aus dem Leben herausgeschnitten wird: „[W]enn ich mich auf dem aus dieser Operation hervorgegangenen Gebilde erblicke, so sehe ich, daß ich GANZ UND GAR BILD geworden bin, das heißt der TOD in Person; die anderen - der ANDERE - entäußern mich meines Selbst, machen mich blindwütig zum Objekt.“13 Beim Fotografiertwerden nimmt das Subjekt ein Objektiv war, das auf es gerichtet ist. Eine Besorgnis stellt sich ein. Das eigene Ich soll mit dem abgebildeten Ich übereinstimmen. Das Subjekt will sich selbst durch die Fotografie repräsentiert sehen und beginnt zu posieren. Es ahmt sich selbst nach und verändert sich für den Moment des Fotografiertwerdens. Schon bevor das Bild gemacht wird verwandelt sich das Subjekt zum Bild. Am Ende dieses bizarren Vorgangs steht ein Objekt: eine Fotografie. Roland Barthes beschreibt sich in diesem Vorgang als „ein Subjekt [...], das sich Objekt werden fühlt“14.

Wie das freudsche Unheimliche entspringt die Fotografie dem Eigenen, dem Subjekt. Wie beim Unheimlichen wird bei der Fotografie das Eigene, das Subjekt zu etwas Anderem, Fremdem. Wie das Unheimliche überschreitet die Fotografie nicht nur die Grenze zwischen Leben und Tod, sondern auch die Grenze zwischen eigen und fremd. Sowohl die Fotografie als auch das Unheimliche operieren mit Grenzüberschreitung. Bei beiden handelt es sich um etwas aus Zweierlei Gemachtem. Das Unheimliche ist Entfremdetes, das seinen Ursprung im Eigenen hat. Es ist weder rein fremd noch rein eigen, es besitzt Teile von beidem. Da das Unheimliche bis zuletzt unaufgelöst bleibt, bewahrt es sich auch bis zuletzt diese Teile des Fremden und des Eigenen. Es bleibt bis zum Ende sowohl eigen als auch fremd. Auch die Fotografie bewahrt sich bis zuletzt jene Nabelschnur zum Subjekt, zum Eigenen und ist dennoch gleichzeitig ein Objekt, ein Fremdkörper.  

 

Das Andere im punctum

 

In Die helle Kammer spricht Barthes immer wieder von den beiden Begriffen studium und punctum. Das studium einer Fotografie ist für Barthes „die Hingabe an eine Sache, das Gefallen an jemandem, eine Art allgemeiner Beteiligung, beflissen zwar, doch ohne besondere Heftigkeit“29. Aufmerksamkeit und Anteilnahme werden während des studiums der Fotografie entgegengebracht und ein „höfliches Interesse“30 wird gezeigt. Die Fotografie wird wahrgenommen und interpretiert. Zwar können Fotografien, die zum studium verleiten schreiend sein oder schockieren, sie erschüttern ihr Gegenüber aber nicht wirklich. Das Schreien und der Schock bleiben an der Oberfläche und dringen nicht in das Subjekt ein. 

Während des studiums einer Fotografie besteht jedoch die Möglichkeit auf ein punctum zu treffen. Dieses „zweite Element durchbricht (oder skandiert) das studium“31. Als „Wurf der Würfel“32 ist das punctum etwas Zufälliges. Es ist nicht vom Subjekt steuerbar. Angesichts des punctum gerät das Subjekt in eine passive Rolle. Das punctum selbst „schießt wie ein Pfeil, aus seinem Zusammenhang hervor“33, bringt das Subjekt aus dem Gleichgewicht und verletzt es. Das punctum bricht in das Subjekt ein und hinterlässt eine Wunde. Es erzeugt Betroffenheit, Erregung oder Sehnsucht. 

 

„[A]ls ob der unmittelbare Anblick die Sprache in die Irre führte, ihr die Mühe der Beschreibung abverlangte, die stets den springenden Punkt der Wirkung, das punctum, verfehlen wird“34. Wie das Unheimliche enthält das punctum Teile des Anderen, die es unserem Griff entziehen. Das punctum zeigt uns das Atopische. In Gastmahl beschreibt Platon Sokrates als atopos. Sokrates als atopos verhält sich unangemessen und ist unberechenbar. Er ist zwar Teil der Gesellschaft, fügt sich ihr aber nicht. Die Position, die er innerhalb der Gesellschaft einnimmt ist nicht bestimmbar. Genauso „respektiert das punctum weder Moral noch guten Geschmack“35 und wird nicht vom Fotografen bewusst in eine bestimmte Stelle der Fotografie gesetzt. Es ist vielmehr ein zweckloses Detail oder eine scheinbare Nebensache. Es ist etwas, das beim Betrachten „aus der Seite ins Auge springt“36. Unberechenbar wie atopos überfällt uns das punctum und zeigt sich uns als das Andere. 

Auch ist das punctum „immer eine Zutat: es ist das, was ich dem Photo hinzufüge und was dennoch schon da ist.“37 Es ist etwas sehr subjektives, persönliches und gleichzeitig doch etwas das sich in der Fotografie, im Objekt befindet. Das punctum dringt in das Subjekt ein und überschreitet wie das Unheimliche die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen eigen und fremd. Wie das Unheimliche zeigt uns das punctum das persönliche Andere; das Fremde in uns selbst. 

 

Medien des Unheimlichen

 

Das Unheimliche ist keine bestimmte Objekteigenschaft. Es ist nicht etwas, das wir sehen. Es gelangt nicht von Außen über die Sinne in den Bereich der Wahrnehmung, sondern kommt aus unserem Inneren. So ist das Unheimliche an sich etwas immaterielles und unsichtbares. 

Die Komplexität technischer Geräte bleibt dem Blick verborgen. Selbst in seine Einzelteile zerlegt würde das Innere eines Smartphones wohl nur wenig über dessen Funktionsweise verraten. Außer einem ,Made in...‘ lassen technische Produkte außerdem kaum etwas über ihren Produktionsprozess erkennen. Die Bedienung moderner Technik ist nicht kompliziert. Sie funktioniert oft automatisch. Wie von Geisterhand braucht sie so nicht einmal eine Berührung. Die Geräte wirken immer immaterieller. Das Gehäuse, in dem sich die Technik verbirgt, wird immer schmäler, der Anteil des gläsernen Displays an diesem Gehäuse gleichzeitig immer größer. Die Oberfläche des Internets ist gar nicht erst abbildbar.

Neue Medien besitzen sicher eine enorme unsichtbare Dimension und damit entsprechend viel Raum für das Unheimliche. Schließlich ist 

In ihrer technischen Entwicklung sind Medien stets voneinander abhängig. So wie unheimlich und heimelig bauen Medien „aufeinander auf und gehen auseinander hervor bzw. ineinander über.“39 Medien erneuern sich konstant und in rasantem Tempo. Die neuen Medien von heute haben die alten Medien von gestern verdrängt und ersetzt. So werden neue Medien (und auch die Neuen Medien) dadurch unheimlich, dass sie stets eine Verbindung zum Altbekannten und Längstvertrauten in sich tragen. Der Video-Stream beinhaltet den Geist der DVD, die DVD wiederum den Geist der VHS-Kassette. Das lässt sich so fortführen bis hin zur Fotografie. Fernsehen und Video sind „als Nachfolgetechnologie von Fotografie und Film ebenso Mittler zwischen Leben und Tod im medialen Bild, das sie produzieren.“40 Fernsehen und Video sind, wie die Fotografie, Medien des Unheimlichen. Sie verkörpern immer den Rückbezug auf ihre Vorgänger und die mit ihnen verbundenen Diskurse. So lässt Roland Barthes‘ unheimliche Fotografie die Fotografie und alle nachfolgenden Medien in einem unheimlichen Licht erscheinen. Das ist keineswegs etwas schlechtes, denn das Unheimliche bringt die Chance zur Auseinandersetzung mit dem Selbst und kann uns wertvolle Erkenntnisse bringen. 

 

1   Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie. 17. Auflage. Frankfurt a. M.

      2019, S.90f.

2   Ebd., S.92.

3   Ebd., S.12.

4   Ebd., S.90.

5   Ebd., S.97.

6.  Ebd., S.93.

7.  Ebd., S.106.

8   Ebd., S.106.

9   Ebd., S.266.

10 Sigmund Freud: Das Unheimliche. In: Studienausgabe in zehn Bänden mit einem

      Ergänzungsband. Hrsg v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey. Bd. 4.

      Psychologische Schriften. 11. Auflage. Frankfurt a. M. 2009, S.264.

11 Barthes: Die helle Kammer, S.17.

12 Ebd., S.22.

13 Ebd., S.23.

14 Ebd., S.22.

15 Byung-Chul Han: Agonie des Eros. Berlin 2015, S.7.

16 Ebd., S.7.

17 Byung-Chul Han: Die Austreibung des Anderen. Gesellschaft, Wahrnehmung und Kommunikation

      heute. 4. Auflage. Frankfurt a. M. 2019, S.30.

18 Han: Agonie des Eros, S.14.

19 Vgl. ebd., S.14.

20 Vgl. ebd., S.7.

21 Vgl. ebd., S.32.

22 Vgl. Julia Kristeva: Fremde sind wir uns selbst. Aus dem Französischen von Xenia Rajewsky.

      Frankfurt a. M. 1990, S.203.

23 Vgl. Freud: Das Unheimliche, S.245.

24 Ebd., S.257.

25 Ebd., S.259.

26 Kristeva: Fremde sind wir uns selbst, S.209.

27 Ebd., S.208.

28 Ebd., S.209.

29 Barthes: Die helle Kammer, S.35.

30 Ebd., S.36.

31 Ebd., S.35.

32 Ebd., S.36.

33 Ebd., S.35f.

34 Ebd., S.62.

35 Ebd., S.53.

36 Ebd., S.52

37 Ebd., S.65

38 Vgl. Felix T. Gregor: Das technologische Unheimliche. Fernsehen Video und Virus in Nakata

      Hideos Film RINGU. In: Florian Lehmann (Hrsg.): Ordnungen des Unheimlichen, a.a.O., S.281.

39 Ebd., S.282.

40 Ebd., S.291.

Anker 3
Anker 1
bottom of page